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Von Syrien nach Augsburg – meine Geschichte

Juli 13, 2017 Aktuelles, Diesel, Kultur No Comments

Ich heiße Heba und komme aus Darra, einer Stadt in Syrien. Dort lebte ich mit meiner Familie in einem wunderschönen großen Haus. Ich habe zwei Schwestern und einen Bruder. Mein Vater war Kaufmann und meine Mutter arbeitete als Religionslehrerin. In Darra besuchte ich die 6. Klasse der Yarmuk-Schule. Die Fächer Arabisch und Biologie machten mir großen Spaß. Ich liebte meine Heimat sehr … Syrien bedeutete für mich Sicherheit, Wärme und der Duft des Jasmins. Aber dann kam der Krieg, der alles zerstörte. Nun hatten wir keine Sicherheit, keine Wärme, kein Haus und auch kein Auto mehr.

Typisches Wohnhaus in Damaskus

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Alles begann an einem Tag, am 18. März 2011, an dem meine Familie, meine Großeltern und ich Picknick auf einer schönen Wiese machten. Auf dem Rückweg nach Hause sahen wir zum ersten Mal sehr viele Soldaten mit Gewehren auf der Straße. Wir hatten große Angst und konnten nicht verstehen, was los war. Ab diesem Tag ist alles anders geworden, wir hörten, dass viele Menschen starben. Ein halbes Jahr später wurde mein Opa auf dem Weg von der Moschee nach Hause umgebracht. Es war ein furchtbares Erlebnis für unsere Familie, vor allem, weil wir dachten, er habe sich nur das Bein verletzt. Im Krankenhaus aber fanden meine Eltern ihn blutüberströmt und tot vor. Ich kann meine Trauer kaum beschreiben, denn ich liebte ihn sehr.

Die Situation wurde immer schlimmer und kurze Zeit darauf verlor mein Vater seine Arbeitsstelle. Als sich die Lage weiter verschlechterte, entschieden wir uns, aus Syrien zu fliehen. Anfangs waren meine Mutter und ich dagegen und wollten in Syrien bleiben, das doch Heimat, Sicherheit und Wärme bedeutete. Jedoch blieb uns keine andere Wahl als zu fliehen. Wir entschlossen uns, in die Türkei zu ziehen. Dafür wollten wir zunächst mit dem Bus in den Libanon fahren. Doch es gab ein Problem: Als wir in den Bus stiegen, wurde gesagt, dass mein Vater Syrien nicht verlassen darf. Daraufhin fuhren wir alleine und ließen meinen Vater in Syrien zurück. Jedoch war der Weg nicht so einfach, die Flucht sehr schwer für uns. Wir brauchten einen ganzen Tag, um von Syrien in den Libanon zu gelangen. Dort stiegen wir in ein Boot, um weiter in die Türkei zu kommen.

Wir blieben zunächst bei meinem Onkel, der bereits in der Türkei war. Dort warteten wir, bis mein Vater zu Fuß über einen Gebirgsweg zu uns kam. Nach zwei Wochen war er endlich da und wir reisten weiter nach Izmir, einer türkischen Stadt am Mittelmeer. Von dort wollten wir mit dem Boot nach Europa. Nachdem wir in Izmir angekommen waren, wurden wir mit einem Van zum Treffpunkt für die Bootsabfahrt gebracht. Das dauerte zwei Stunden. Dann mussten wir weiter auf das Boot warten, das uns nach Griechenland bringen sollte. In dieser Zeit froren wir wegen des eiskalten Wetters mitten in der Nacht. Wir wurden von vielen Insekten gestochen. Wir hatten sehr große Angst, weil wir nicht wussten, ob wir die Fahrt überleben würden. Mehrere Schlauchboote kamen an, die zu wenig Luft hatten, um sicher übers Meer zu fahren. Wir waren umgeben von vielen anderen Menschen mit Koffern, Taschen und weinenden Kindern, die wie wir Angst und Hunger hatten. Endlich kam ein seetüchtiges Boot, aber es wollten fast doppelt so viele Leute einsteigen, wie Platz war. So saßen wir eng aneinandergedrückt auf dem Boot mit ganz vielen Kindern, Erwachsenen und sogar alten Leuten. Die Überfahrt dauerte zwei Stunden, die sich fast endlos anfühlten. Die letzten zehn Minuten waren die schlimmsten, denn die Wellen wurden immer höher und füllten das Boot mit Wasser. Außerdem wackelte es immer stärker. Viele Leute übergaben sich, und wir hatten große Furcht zu ertrinken, falls das Boot unterginge, denn wir hatten nur schlechte Schwimmwesten an. Alles wurde nass, unsere Kleidung, unsere Handys, unsere Unterlagen. Sie wurden beschädigt und gingen kaputt. Trotzdem waren wir froh, denn wir waren am Leben.

Endlich kamen in Griechenland an. Wir waren überglücklich, als wir unsere Schwimmwesten ausziehen konnten, und gleichzeitig doch voller Sorge, was als nächstes passieren würde. Wir gingen auf eine Polizeiwache, um einen Fingerabdruck abzugeben, dafür mussten wir zwei Stunden laufen. Der Weg war beschwerlich und nahm kein Ende. Nach dem Abgeben des Fingerabdrucks erlaubte die Polizei uns weiterzureisen. Wir gingen zu einem Hafen, um auf ein Schiff zu warten, das nach Athen fuhr. Endlich auf dem Schiff, dauerte die Fahrt nach Athen fünfzehn Stunden. Glücklicherweise war dies ein komfortables Schiff, wo wir uns in einem kleinen Zimmer mit Betten erholen konnten. Nach drei Tagen ohne Schlaf war es einfach herrlich, sich in ein gemütliches Bett zu legen und die Augen schließen zu können.

Als wir in Athen angekommen waren, nahmen wir einen Bus, um weiter nach Mazedonien zu kommen. Nach der Ankunft dort erholten wir uns vier Stunden in einem Camp, wechselten unsere Kleidung und bereiteten uns auf die Zugfahrt nach Serbien vor. Allerdings durfte der Zug nicht weiterfahren, als wir an der Grenze ankamen. Wir mussten zu Fuß zehn Kilometer über die Grenze laufen. Es regnete und donnerte und der Boden war matschig. Es war schrecklich, denn es war Nacht und stockdunkel. Eine große Gruppe Flüchtlinge war mit uns unterwegs. Manche halfen uns, als sie sahen, dass meine Eltern mit uns vier Kindern – darunter ein Baby – und den vielen Taschen vollkommen überfordert waren.

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Das umkämpfte Aleppo

Nachdem wir schließlich in Serbien angekommen waren, saßen wir in der kalten dunklen Nacht ohne Lebensmittel und ohne Unterkunft auf der Straße. Danach sollten wir eine Landkarte erhalten, anhand der wir uns auf den Weg nach Ungarn machen konnten. Zuvor aber wurden wir zwei Stunden in einem Zelt aufgehalten. Gott sei Dank bekamen wir schließlich die Landkarte und wurden mit dem Zug nach Ungarn transportiert. Wir erreichten die ungarisch-österreichische Grenze und blieben für eine Nacht in einem Gemeinschaftszelt.

Am nächsten Tag durften wir nach Österreich reisen, wo wir für drei Tage in einer Tiefgarage untergebracht wurden. Dort waren ganz viele Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern, zum Beispiel aus Afghanistan, Eritrea und auch Syrien. Beim Essen, Trinken, auf den Toiletten und sogar beim Schlafen waren wir immer mit vielen fremden Leuten zusammen. Diese Tage waren sehr anstrengend, weil man ständig auf sich und seine Sachen aufpassen musste. Die Stimmung in der überfüllten Garage war angespannt und wir fühlten uns hilf- und hoffnungslos, so ohne Sonne und frische Luft. Nach diesen drei Tagen transportierte uns die Polizei endlich an die österreichisch-deutsche Grenze, wo wir eine weitere Nacht in einem Camp verbrachten. Daraufhin wurden wir mit Bussen über die Alpen gefahren und sollten dort warten, bis wir an einen anderen Ort gebracht werden.

Unser Ziel war Belgien, wo bereits Verwandte von uns waren. Doch die Polizei erlaubte uns nicht, Deutschland zu verlassen, obwohl wir bereits Zugtickets dorthin gekauft hatten. Nach einer Pause von drei Stunden wurden wir weitergeschickt. Wir stiegen in den Bus und warteten so lange, bis wir irgendwo ankamen – es war Augsburg. Dort brachte man uns in das große Camp an der Berliner Allee, in dem wir sieben Tage lang blieben. Auch dort war es schrecklich, mit so vielen fremden Leuten gemeinsam unterbracht zu sein.

Danach zogen wir in das Flüchtlingsheim beim Botanischen Garten, in dem wir ein Jahr lang wohnten. Dort gab es zehn Familien, wobei jede Familie ein Zimmer hatte. Auch meine Familie mit sechs Personen hatte nur ein Zimmer. Wir mussten uns alles wie zum Beispiel die Küche und das Wohnzimmer und die Toiletten mit den anderen Familien teilen. Leider gab es fast jeden Tag Streit und Missverständnisse zwischen den Familien wegen der Enge und des gemeinsamen Lebens.

Trotzdem war ich begeistert und ungeduldig, die deutsche Sprache endlich kennenzulernen und eine Schule zu besuchen. Denn zwei Monaten lang zu Hause zu verbringen und dabei kein einziges deutsches Wort zu kennen, ist sehr langweilig. Aber es gab Hoffnung, als wir einen Brief mit der Aufforderung bekamen, in eine Schule zu gehen, und zwar in eine Realschule. Dort gab es viele Übergangsklassen. Alle Anfänger – von der 5. bis zur 9. Klasse – wurden in einer Gemeinschaftsklasse in Deutsch unterrichtet. Da gab es viele Schüler, die zwar nicht gleichaltrig waren, aber trotzdem war ich überglücklich und fand auch schnell viele Freunde.

Wir lernten Grammatik und außerdem Wochentage und Jahreszeiten und noch viel mehr Wortschatz – zum Beispiel „Auge“, „Bein“ … Ein Wort kam zum anderen. Und dann kam das mit den Artikeln: entweder „der“, „die“ oder „das“. Das war total kompliziert und es fiel mir sehr schwer, mir zu merken, wann man was benutzen soll. Also ich habe immer „die Auge“ anstatt „das Auge“ gesagt … Am Anfang hörte es sich für mich wie ein Streit oder wie Schimpfwörter an, wenn sich die Leute ganz normal auf Deutsch miteinander unterhielten, weil die Sprache ganz hart für mich klang und eine sehr schwierige Aussprache hatte. Meine ersten Worte waren „Tschüss“ und „Danke“ – ach ja, und noch so ein langes Wort: „Auf Wiedersehen“. Ich brauchte eine Woche, um „Auf Wiedersehen“ sagen zu können. Anfangs redete ich nur englisch und manchmal deutsch-arabisch gemischt. Mit der Zeit fand ich aber, dass Deutsch eine schöne Sprache ist, wenn auch richtig schwer. Ich musste wirklich fleißig lernen. Nach zwei Monaten bekam ich einen Brief, und zwar eine Einladung vom Peutinger-Gymnasium. Darin stand, dass meine elfjährige Schwester und ich die Möglichkeit haben, das Gymnasium zu besuchen, allerdings mussten wir vorher eine Prüfung in Mathe und Englisch machen. Zum Glück bestanden wir sie. Ich war zwar irgendwie traurig, weil ich meine Schule verlassen musste, aber gleichzeitig auch glücklich, denn im Gymnasium gibt es bessere Lernmöglichkeiten. Also entschlossen wir uns, die Schule zu wechseln – das war am 22. Februar 2016 und dauerte bis Ende Juli.

Am Peutinger-Gymnasium besuchten wir eine Übergangklasse mit Multikulti-Schülern, die von überall her kamen. Diese Klasse war durchaus viel schwerer als die Realschule und auf höherem Niveau, denn wir sollten die deutsche Sprache in nur sechs Monaten lernen und gut beherrschen. Das war richtig hart und stressig. Sechs Stunden jeden Tag mit viel Grammatik, zum Beispiel Akkusativ, Dativ, Präpositionen und natürlich die ARTIKEL! Aber das alles war die Vorbereitung, um im nächsten Schuljahr in einer normalen Klasse zurechtzukommen.

Diese sechs Monate vergingen sehr schnell und am Ende des Schuljahres musste dann jeder eine andere Schule besuchen, die näher an seinem Wohnort lag. Ich war total traurig, denn ich musste meine wunderschöne Klasse verlassen und die Schule, die ich sehr mochte. Ich wollte eigentlich am Peutinger-Gymnasium bleiben, aber für mich lag das Rudolf-Diesel-Gymnasium am nächsten. Ich war sehr enttäuscht, denn ich fürchtete, dass ich meine alten Freunde vermissen und keine neuen mehr finden würde.

Vor dem erneuten Schulwechsel bekamen meine Schwester und ich die Zeugnisse und wir wurden in unsere künftigen Klassenstufen eingeordnet: meine kleine Schwester in die 5. Klasse und ich die 7. Klasse. Es fiel mir schwer, diese Entscheidung zu akzeptieren, denn vom Alter her müsste ich eigentlich in der 9. Klasse sein.

So waren die ersten Tage an meiner neuen Schule auch ein bisschen seltsam für mich. Ich kannte niemanden außer meiner Schwester und an dieser Schule waren wir auch die einzigen Flüchtlingskinder aus Syrien. Ich sah außer mir kaum Schülerinnen, die ein Kopftuch tragen. Alles war wieder neu und fremd für mich und ich sehnte mich nach meinen Freunden am Peutinger-Gymnasium zurück.

Doch schon nach zwei Wochen hatte ich einige neue Freunde gefunden und ich verstand mich trotz des Altersunterschieds sehr gut mit meinen Mitschülern. Alle waren hilfsbereit und sympathisch, sie halfen mir immer, wenn ich etwas nicht verstand, und unterstützten mich, wo sie konnten. Auch die Lehrer waren sehr freundlich zu mir und meiner Schwester, und so fühlen wir uns inzwischen auch an dieser Schule sehr wohl.

An Deutschland stört mich eigentlich nur das kalte graue Wetter. Und manchmal vermisse ich beim Essen die Gewürze meiner Heimat. Aber die Menschen hier, die sind sehr nett. Ich fühle mich inzwischen viel vertrauter mit allem hier, und ich mag unsere neue Wohnung, wo wir jetzt wieder als Familie für uns leben können. Doch Damaskus, wo wir die letzten beiden Jahre vor unserer Flucht verbrachten, vermisse ich sehr. Was ich mir wünsche? Frieden und Sicherheit in meiner Heimat, und dass das Sterben dort endlich aufhört.

Heba Alhajali, 7c

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